Sep04

Industrialisierung und Strukturveränderung in der Energiewirtschaft

Kategorien // consulting, Energiewirtschaft, Fachaufsatz, News

Lösungsmodell EVU 1Nach Liberalisierung und Regulierung der Energiewirtschaft sowie im zweiten Jahr nach der Energiewende in Deutschland befindet sich die Branche in einem Strukturveränderungsprozess ohne eindeutiges Ziel und mit noch offenem Ausgang für die Marktpartner. Alle Wertschöpfungsstufen stehen zur Disposition, Markpartner ziehen sich zurück, andere dagegen steigen ein oder wollen einsteigen. Die Anzahl der Marktpartner scheint sich durch den Einstieg neuer Marktteilnehmer sowie durch die „Rekommunalisierung“ noch zu erhöhen. Dies steht im Widerspruch zu einer notwendigen Konsolidierung auf Grund der Standardisierung der Prozesse und der Erhöhung der erforderlichen Reaktionsgeschwindigkeiten bzw. dem erwarteten Anstieg der täglichen Geschäftsvorfälle sowie dem weiter ansteigenden Kostendruck.

Wesentlich für den aktuellen und zukünftigen Erfolg ist jedoch mehr denn je ein optimierter operativer Geschäftsbetrieb mit funktionsfähigen Prozessen, einschließlich der erforderlichen IT-Systeme geworden. Entscheidend ist mittlerweile, dass die aktuellen Anforderungen insbesondere der BNetzA fristgerecht und kostenoptimiert umgesetzt werden. Doch die vorhandenen Konzepte sind nach wie vor sehr unterschiedlich und eine einheitliche Lösung noch nicht sichtbar. Aber, welche Handlungsoptionen gibt es? Wie werden sich die Energiewirtschaft sowie der Markt für Dienstleistungen in den nächsten Jahren entwickeln?

 


 

Derzeit sind alle Wertschöpfungsstufen in der Energiewirtschaft durch eine fehlende Marktattraktivität gekennzeichnet. Ausgenommen hiervon sind die Netze mit ihrem regulierten Geschäft mit geringer und sinkender, jedoch stabiler Rendite. Strategische Investitionen bleiben auf Grund unklarer politischer Rahmenbedingungen aus. Marktmodelle für die Kernfunktionen, u.a. für konventionelle Kraftwerke, Geschäftsmodelle für neue Marktrollen und mittlerweile notwendige Netzinfrastrukturmaßnahmen (Smart X) sowie für Vertrieb auf Endverteilerstufe und damit mehr Markt sind derzeit nicht attraktiv.

Mit der Umsetzung der durch die BNetzA vorgegebenen und durch die Marktentwicklung sich ergebenden Anforderungen ist die Komplexität an die erforderlichen Prozesse rasant gestiegen, u.a. auch auf Grund des stetig steigenden Transaktionsvolumens. In der Folge sind die Prozesskosten ebenfalls rasant gestiegen. Erhebliche Kostenreduzierungen und notwendige Strukturveränderungen sind bei den Marktpartnern erforderlich. In der Vergangenheit wurden die erforderlichen Aktivitäten der Prozesse über alle Wertschöpfungsstufen weitgehend in der Eigenfertigung der Energieversorgungsunternehmen (EVU), meist Stadtwerke mit kommunalen Anteilseignern, erbracht. Übergreifende Kooperationen der EVU haben in der Vergangenheit nicht stattgefunden; ein Outsourcing von ausgewählten Prozessen oder Funktionsbereichen war politisch nicht opportun.

Die Konzernunternehmen haben auf Grund ihrer Größe sowie Mengentreiber als erste Marktpartner den Strukturveränderungsprozess gestartet. Ausgewählte Funktionsbereiche und Prozesse wurden zunehmend industrialisiert. Zielsetzung hierbei war es, die spezifischen Stückkosten zur Bedienung der Geschäftsvorfälle auf Basis von Mengendegressionseffekten signifikant zu reduzieren. Mit der Harmonisierung von Prozessen und IT-Funktionen sowie einer organisatorischen Zentralisierung der betroffenen Funktionsbereiche waren bereits erste Erfolge bezogen auf Industrialisierung und Größe bei den Konzernunternehmen sichtbar. Auf Grund der aktuellen Marktentwicklung - Desinvestitionsstrategie der Konzernunternehmen auf der Endverteilerstufe und „Rekommunalisierung“ - hat sich jedoch ein entgegengesetzter Trend „eingeschlichen“. Eine zur Reduzierung der Stückkosten erforderliche Konsolidierung im Markt findet aktuell nicht statt. Im Gegenteil: Die Anzahl der Marktpartner steigt!

Problemfeld „Shared Services“ - Dilemma

In der Vergangenheit haben sich EVU ihre Eigenständigkeit und Selbständigkeit erfolgreich durch Differenzierung abgesichert. Services waren „Kerngeschäft“. Nahezu jeder Marktteilnehmer hat die Implementierung der mittlerweile durch die BNetzA vorgegebenen und damit standardisierten Prozesse individuell auf Basis einer „Standard-Software“ eingeführt. Hiermit waren erhebliche Investitionen, u.a. in die IT-Anwendungssysteme und –Infrastrukturen erforderlich. Die Betriebskosten zum Betrieb und zur Fortentwicklung der IT sowie für die Durchführung der Aktivitäten der Prozesse sind zu hoch; die geringen Margen werden durch hohe Prozesskosten aufgezehrt.

Darüber hinaus sind folgende ausgewählte Handlungsfelder zu beobachten:

  • Unzureichende Qualität:
    Verzögerte und mangelhafte Bearbeitungen führen zu Folgeaufwänden und erhöhten Prozesskosten
  • Unzureichende Umsetzungsgeschwindigkeit der Anforderungen:
    Hohe Anzahl an Projekten (Veränderungsprozesse, IT) parallel zum Betrieb werden nicht hinreichend koordiniert und fristgerecht umgesetzt; erhöhte Prozesskosten, Strafandrohungen durch die BNetzA
  • Überforderung der Mitarbeiter / Organisation:
    Mitarbeiter können den Veränderungen nicht mehr folgen bzw. decken die Breite der Anforderungen / Komplexität nicht mehr ab
  • Überlastsituation in der IT:
    Prozesse werden auf Grund unzureichender Anforderungsumsetzungen nicht bzw. unzureichend Business-getrieben unterstützt
  • Unzureichende Synergien:
    Synergien werden unzureichend realisiert, z.B. führen Mehrfachentwicklungen in der IT zu erhöhten Entwicklungs- und Betriebskosten (Support, Wartung, Test)

Ursächlich für diese Handlungsfelder sind wohl die steigende Komplexität, das wachsende Transaktionsvolumen und der Kostendruck. Organisationen mit geringer Größe „können“ diese Aufgaben nicht optimiert bearbeiten! Eine in der Vergangenheit ausgebliebene unzureichende Standardisierung und Konsolidierung der Services (Prozesse und Funktionen) sowie Größe (Mengendegressionseffekte) stellt sich nunmehr als erfolgskritisch für die Zukunft dar. Wettbewerbsvorteile sind lediglich durch Kostenvorteile zu realisieren.

Eine Industrialisierung ist erforderlich. Lösungen sind aktuell im Markt nicht sichtbar. Aber, welche Handlungsoptionen gibt es? Wie wird sich die Energiewirtschaft sowie der Markt für Dienstleistungen in den nächsten Jahren entwickeln?

Mögliche Marktentwicklung

Aktuell ist der Dienstleistermarkt noch i.W. durch ein Angebot „einfacher“ oder spezialisierter Tätigkeiten („fleißige Hände“, Arbeitnehmerüberlassung und Berater) geprägt. In den letzten Jahren ist insbesondere bei den Konzernunternehmen und großen EVU zu beobachten, dass Fremdleistungen einkaufsgetrieben zu immer niedrigeren Stückpreisen eingekauft wurden. Die Preise für einen Front-Office Mitarbeiter (Customer Care-Aktivitäten, Call-Center) bewegen sich um ca. € 20,00 pro Mitarbeiter und Stunde. Qualifiziertere Aufgaben aus dem Back Office (Sachbearbeiter) bewegen sich mittlerweile ebenfalls in Richtung dieses Preises. Leistungen zu diesem Preis sind lediglich über große Dienstleistungsorganisationen, meist Call Center-Dienstleister realisierbar. Mittlerweile sind auch Near / Off Shoring-Konzepte sichtbar. Die Leistungen sind standardisiert, schnell vermittelbar und austauschbar. Eine tiefe Integration in die Organisation des Auftraggebers ist hiermit nicht realisierbar.

Ausgewählte Full Service-Dienstleister mit einem ganzheitlichen Lösungsangebot für Marktrollen (Vertriebs- / Netzgesellschaften) sind vorwiegend aus Ausgründungen großer EVU entstanden. Zielsetzung hierbei war i.W. die Realisierung marktfähiger Strukturen sowie einer Plattform für Kooperationen und Ausbau des Geschäfts außerhalb des Gesellschafterkreises (Drittmarktstrategie). Signifikante Erfolge im Ausbau des Geschäfts sind jedoch nicht realisiert worden. Ursächlich hierfür waren die geringe Nachfrage sowie eine unzureichende Marktfähigkeit. I.d.R. decken diese Dienstleistungsunternehmen die Anforderungen der Gesellschafter ab. Ferner konnten auf Grund des hiermit verbundenen Investitionsvolumens meist keine Konsolidierungen bzw. Harmonisierungen der Prozesse und Funktionen, damit auch lediglich geringe bzw. unzureichende Kostendegressionen realisiert werden. Ausnahmen hierzu sind IT-Infrastrukturanbieter (z.B. Rechenzentren). Und, Shared Service-Organisationen der Konzernunternehmen werden auf die Anforderungen der Gesellschafter fokussiert; Dienstleistungen an Dritte werden nicht (mehr) angeboten.

Zur Realisierung von signifikanten Kostendegressionen sind industrielle Lösungen erforderlich. Sowohl Volumen als auch eine optimierte Organisation ist hierfür Voraussetzung. Die Aufbau-Investitionen wären erheblich. Ferner wären für die Überführung, u.a. der Migration der vorhandenen Daten und Systeme, erhebliche Investitionen und Aufwendungen erforderlich. Losgelöst von einer erfolgreichen Akquisitionsleistung bzw. den diesbezüglich erforderlichen Entscheidungsprozessen zur Auslagerung von Funktionsbereichen (Outsourcing) müssten hierfür signifikante Budgets bereitgestellt werden. Diese Budgets werden jedoch vermutlich von einem EVU nicht mehr genehmigt. Ein Dienstleister, der diese Budgets bereitstellen wird, ist ebenfalls nicht sichtbar. Trotz der Handlungsfelder eines EVU ist ein Outsourcing von ganzen Funktionseinheiten, z.B. Abrechnung, IT, auf Grund fehlender „politischer“ Mehrheiten als auch Budgets nicht wahrscheinlich.

Evolutionäre Entwicklung

Eine Konsolidierung im Markt kann somit lediglich evolutionär erfolgen. Auf Grund des Handlungsdrucks wird sich vermutlich ein Prozess-Outsourcing (vgl. Outsourcing an Systemintegratoren in der Automobilbranche) entwickeln und mittelfristig durchsetzen. Eine sukzessive Auslagerung könnte politisch in den EVUs in Abhängigkeit des Handlungsdrucks tragfähig sein. Voraussetzung wären modularisierte Lösungsbausteine, die alle Architekturebenen von der Organisation, Prozesse, IT-Anwendungen bzw. –Funktionen , IT-Infrastruktur /-Betrieb, einschließen und standardisierte Schnittstellen zwischen den Prozessen bieten. Beispielhaft wären z.B. die Marktkommunikation oder die EEG-Einspeiserabrechnung. Lösungen hierfür sind zwar ebenfalls noch zu entwickeln; die Voraussetzungen sind jedoch im Markt bereits als Keimzellen vorhanden. Und, etwaige Risiken für Dienstleister sind überschaubar und tragfähig.

Lösung EVU2

Beschleunigt werden könnte dieses Szenario durch die politisch anstehenden Entscheidungen nach der Bundestagswahl. Einerseits könnte sich der Handlungsdruck bei den EVU für notwendige Strukturanpassungen noch weiter erhöhen. Andererseits könnten sich durch neue, zusätzliche Anforderungen, z.B. Smart Metering, Smart-X, grundsätzliche Architekturfragestellungen ergeben, die in kleinen bis mittelgroßen Organisationen und IT-Infrastrukturen nicht abbildbar wären.

Welche Lösungen und Marktpartner sich in den nächsten Jahren durchsetzen und etablieren werden, ist derzeit noch nicht absehbar. Eine Industrialisierung der Prozesse und eine signifikante Reduzierung der spezifischen Stückkosten sind erforderlich. Notwendige Entscheidungen zur grundsätzlichen Ausrichtung stehen an. Chancen bieten sich sowohl den bereits etablierten Marktpartnern als auch neuen. Die Gestaltungsspielräume aus der Branche heraus haben sich angesichts der Marktentwicklung jedoch reduziert.

 

Frank Oesterwind
Vorstandsvorsitzender enerson AG

 

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